Kapitel 4
 

Chroniken von Tamalia

 

Kapitel Vier: Nacht des Schicksals

 

„Sind wir schon da?“ – „Nein“ - „Sind wir schon da?“ – „Nein“ - „Sind wir schon da?“ – „Nein“, antwortete Gabriel beherzt, der die Führung durch den Wald übernommen hatte. „Und hättest du nicht das Pergament vergessen wären wir längst dort“, warf Gabriel Rondas vor, der wütend in die weiche Erde trat. „Soweit ich weiss hat niemand die Wette gewonnen gewonnen. Wieso sollte dann ausgerechnet ich daran denken?“, fragte Rondas Gabriel. „Keine Ahnung. Ist ja auch egal. Wir sind schon bald da.“ – „Was? Jetzt schon?“ -  „Nein.“ – „Jetzt?“ fragte Rondas mit einem breitem Grinsen auf den Gesicht. „Ja..“ – „Wirklich?“ – „Nein!“, antwortete Gabriel lächelnd. Beide fingen an zu lachen und bemerkten nicht, dass sie beobachtet wurden. Sie liefen weiter in den Wald hinein, wo nur das schwache Sonnenlicht, welches durch das Blattwerk schien, es vermochte den Beiden, den Weg zu weisen. „Du weisst hoffentlich noch, wo der Ort ist, oder?“ – „Klar weiss ich das. Nur noch ein paar Minuten“, gab ihm Gabriel zur Antwort. Die Antwort klang nicht gerade selbstsicher.

 

Zwei Gestalten späten zwischen den Ästen hindurch und begannen miteinander zu tuscheln. „Spüüüürssst duuuu’s aaauch?“ – „Jaaaa, dassss ssind keeeine gewöööhnlichen Baauerntölpel!“ – „Wir sollteeen Saaaliiina berrricht erstatten!“ Die zwei Gestalten hoch oben im Blattwerk beobachteten Gabriel und Rondas noch eine Weile, bevor sie beinahe lautlos über die Äste in die Dunkelheit huschten.

 

„Hast du auch etwas gehört?“, fragte Rondas ängstlich umherblickend. „Klar, ist ja auch die Aufgabe etwas zu hören, nicht?“ – „Ja schon, aber ich meine, es war so ein bedrohliches Geräusch“ – „Ich habe heut schon einen Troll und einen Drachen gesehen. Mich erschreckt heute gar nichts mehr,“ gab Gabriel trocken zurück und bahnte sich den Weg durch ein Gestrüpp auf eine Lichtung. „ Da sind wir!“ sagte Gabriel feierlich und Rondas blickte enttäuscht auf die Lichtung. „Das war’s?!“ – „Ja, wieso?“ – „Weil diese Lichtung genauso aussieht wie die letzten drei und schau mal!“, rief er aus und deutete auf eine Spur in der Erde. „Genau an dieser Stelle habe ich in die Erde getreten! Wir sind im Kreis gegangen!“ – „Kann sein. Naja, machen wir das Beste draus“, versuchte er Rondas zu beruhigen und setzte sich auf einen Baumstumpf. „Wir bleiben ein paar Stunden hier und suchen uns dann bis Tagesanbruch eine kuschelige Höhle“ – „Wenn wir eine finden!“ – „Wenn du eine bessere Idee hast, dann spuck’s aus und wenn nicht, dann setz dich und halt die Klappe. Du verschreckst ja die ganzen Tiere!“, sprach Gabriel mit ruhiger Stimme, während Rondas sich immer noch  aufregte, sich aber auch bald setzte. Gabriel lächelte zufrieden und sah sich um. Der Platz war mitten im Wald. Nichts und niemand konnte sie hier stören. Obwohl es nur Schulaufgaben waren, weckte diese Art von Wettstreit den Ehrgeiz dieser beiden. „Wir wechseln uns ab. Sobald der erste drei Tiere hat, übernimmt der Zweite die nächsten drei Tiere einverstanden?“. Rondas war einverstanden und liess Gabriel die erste Runde schieben. So vergingen die Stunden und sie wurden immer schläfriger. Die Sonne war längst untergegangen und der Mond tauchte die Lichtung in ein fahles Licht.

 

Die Luft war angenehm kühl und von den Geräuschen der Nacht erfüllt. „Gabriel, bist du noch wach?“, fragte Rondas, der schon halb eingeschlafen war und das Pergament lose in den Händen hielt. „Nein,“ antwortete Gabriel nach einer Weile und drehte sich auf die andere Seite. Von weitem hallte ein Schrei zu ihnen herüber. „Dieses Tier fehlt uns noch“, murmelte Gabriel im Halbschlaf. „Hmm, was war es denn?“ fragte Rondas, der wieder ein wenig wacher war. „Ich glaube, es war Lilly“, kam es von der anderen Seite zurück. Rondas war mit einem Mal auf den Beinen, und als der nächste Schrei kam stiess er Gabriel in die Seite, der sich aber nur auf den Bauch rollte und weiter döste. „Wach auf!“, schrie er ihn an, doch Gabriel schlief munter weiter. Noch einmal ertönte der Schrei. Rondas trat Gabriel noch einmal in den Hintern und rannte in die Richtung, aus der er den Schrei zu hören glaubte. Er rannte so schnell er konnte durch den Wald, wich den Bäumen nur aus, weil er seine Augen trainiert hatte, auch im Dunkeln einigermassen gut sehen zu können.  Die Schreie wurden immer deutlicher. Doch je näher er ihr kam, desto lauter wurden auch die zischenden Laute, die Rondas schon zuvor gehört zu haben glaubte. Er rannte so schnell er konnte durch das Gestrüpp. Im fahlen Licht, dass noch zwischen den Ästen hindurch schien, schaffte er es jedes Mal noch gerade einem Baum aus zu weichen, als Lilly ihm plötzlich in die Arme lief. Sie war schweissgebadet und ihre blauen Kleider klebten an ihr. Jedenfalls dort wo sie nicht zerrissen waren. Ihr dunkelblondes Haar war zerzaust, ihr Gesicht von Tränen überströmt und sie hatte einige Kratzer abbekommen, schien aber nicht schwer verletzt zu sein. Sie hielt sich an Rondas fest, der wegen der unerwarteten Umarmung erst einmal erfreut war, bis er erkannte weshalb sie schreiend durch den Wald rannte. Hinter ihr tauchten seltsame kleine Wesen auf, die Rondas nur aus Geschichten her kannte, die sich die alten Männer im Dorf erzählten. Es waren Knipfer. Kleine, entstellte und verkrüppelte Wesen deren Haut verfault war. Die Hände waren mit scharfen Klauen besetzt, bereit alles zu zerreissen was sich ihnen in de Weg stellte. Keiner von ihnen schien bewaffnet zu sein. Wegen ihrer geringen Grösse und nicht wirklich beeindruckenden Intelligenz waren sie im Einzelkampf sogar einem Eber unterlegen. In Massen jedoch, und das waren sie meistens, konnten sie selbst einem Troll gefährlich werden. „Daa isssst sieeee! Briiiingt siiiie in Doooorf zurück, wiiie Salinaaa es befaaaahl!“, als sie jedoch Rondas erblickten tauschten sie sich kurz aus, bevor sie ihn wütend anschauten, „töööteeet deen aaaanderen!!“ zischten sie alle wild durcheinander und machten sich zum Angriff bereit.

Rondas stiess Lilly schützend hinter sich und zählte durch. „Fünfzehn, sind aber bestimmt noch mehr. Wo bleibt bloss Gabriel“, dachte er gelassen, während er seine Angriffsoptionen durchging. In Gegenwart von Lilly durfte er nichts tun, was Leilana ihm und Gabriel beigebracht hatte. „Tu es Rondas! Ich weiss, dass du sie besiegen kannst! Leilana hat es mir erzählt!“, rief Lilly ihm von der Seite her zu. „Wieso“, begann er, merkte aber, wie der erste Knipfer bereits auf ihn zu sprang. Er wich dem Schlag elegant aus und rammte seine Faust gegen den Schädel der widerlichen Kreatur. Dieser knackte laut und zersprang, wobei sich eine gelbliche, stinkende Flüssigkeit auf dem Boden ausbreitete. Rondas Hand leuchtete in einem matten Rot und er grinste zufrieden. Die anderen Knipfer schienen davon nicht sonderlich beeindruckt und sprangen ihm entgegen. In seiner Faust formte er aus seinem Chakra eine Flamme, die er als Feuerball auf die Angreifer werfen wollte. Zu seiner eigenen Überraschung war dieser grösser als gewöhnlich und verbrannte vier Knipfer auf der Stelle zu Asche. Die Übrigen blickten auf das, was von ihren Kameraden übrig geblieben war und schienen abzuwägen, ob ein Frontalangriff das Klügste wäre. Motiviert in Anbetracht seiner Situation, sich vor Lilly mit seinen Fähigkeiten zu brüsten, übernahm er die Initiative und sprang auf sie zu. Drei reagierten zu langsam und wurden von einer flammenden Stichflamme erwischt, die  Rondas ihnen entgegen geschleudert hatte. Sogleich warfen sich zwei auf einmal auf ihn, doch er wich zur Seite aus, schlug dem einen die Faust in die Magengegend, wobei der gegen den anderen prallte und zu Boden riss. Rondas beobachtete mit Wohlwollen, wie die Übriggebliebenen langsam vor ihm zurück wichen. Dabei bemerkte er nicht wie ein einzelner Knipfer auf einen Baum kletterte, und lautlos über die Äste über ihn schlich. Er liess sich fallen und wollte seine Krallen in Rondas’ Kopf rammen, als sein Kopf von einer Energiekugel getroffen wurde und sein übriger Körper direkt hinter Rondas landete, der sich überrascht umdrehte und sah wie Lilly erschöpft in die Knie ging. Die Knipfer wollten diese kurze Unaufmerksamkeit nutzen und ihn alle auf einmal angreifen. „Lass dich fallen“, schrie jemand durch den Wald. Rondas liess sich das nicht zweimal sagen und tauchte gerade noch rechtzeitig unter einer gewaltigen Flutwelle hinweg, die die angreifenden Knipfer in die Dunkelheit der Wälder spülte. „Sorry“, rief Gabriel lässig, schien aber trotzdem aus der Puste zu sein. „Versuch mal in dieser Dunkelheit soviel Wasser aufzutreiben. Wollte schon eingreifen, als dich dieser Gnom aus den Bäumen aus angreifen wollte. Aber scheinst hier ja wunderschöne Unterstützung gehabt zu haben“, scherzte Gabriel, während er Lilly amüsiert musterte. „Sie hat mir das Leben gerettet“, murmelte Rondas, der jetzt erst bemerkte, was sie getan hatte. „Aber woher kann sie das?“ – „Vielleicht hat sie es von alleine gelernt?“ – „Nein, sie hat Leilana zuvor erwähnt und dass sie ihr alles erzählt hat. Oder zumindest was unsere Kräfte anbelangt.“ – „Was deine Kräfte anbelangt, mich hat sie nicht gesehen.“ -  Glaubst du Leilana hat nichts von dir erzählt?“ – „Tut ja im Moment nichts zur Sache“, beendete Gabriel die Diskussion. Er schloss die Augen und schien angestrengt zu lauschen. Rondas kümmerte sich derweil um Lilly und half ihr auf die Beine. „Ihr könntet mich auch einfach fragen, statt nur zu mutmassen“, flüsterte Lilly und sah Rondas vorwurfsvoll an. Doch bevor er ihr darauf antworten konnte fing er Gabriels erschrockenen Blick auf. „Rondas“, begann er mit einem falschen Lächeln, „wir habe die Wahl. Entweder sterben wir jetzt wie Brüder im Kampf oder wir laufen sofort los wie die Hasen und retten unser und ihr Leben. Es sind bestimmt 200 Knipfer im Anmarsch und ich bin nicht gerade in der Stimmung mich von ihnen zerfleischen zu lassen“. Kaum hatte er den Satz beendet flog ein Pfeil an ihnen vorbei und blieb zitternd in einem Baum stecken. Es war wie der Startschuss für ein Rennen. Rondas packte sich Lilly, warf sie sich über die Schulter und rannte hinter Gabriel her, der sich bereits aus dem Staub gemacht hatte. Hinter sich hörten sie das Zischen der Knipfer und das Surren der Pfeile um sie herum. „Weisst du überhaupt wohin wir rennen?“ fragte Rondas Gabriel schnaufend, als er ihn aufgeholt hatte. „Ich weiss nur, dass die entgegen gesetzte Richtung nicht die Richtige sein kann“, antwortete Gabriel ihm nach hinten blickend. „Nach rechts!“ schrie er auf einmal. Rondas folgte seinem Rat auf der Stelle und wich so einem Knipfer aus, der ihnen über das Blattwerk gefolgt war. Die Kreatur sprang über ihn hinweg und kassierte einen Schlag in das Genick von Gabriel, als dieser an ihm vorbei rannte. „Hörst du dieses Geräusch?“, fragte Rondas Gabriel, als dieser einem weiteren Pfeil auswich. „Weisst du was? Diese Hausaufgabe kann mich gerade mal kreuzweise!“, antwortete ihm Gabriel unwirsch. „Nicht die Aufgaben du Trottel!“ – „Was den sonst?! – „Der Fluss!“, schrie Rondas, als sie aus dem Wald hinausrannten. Unter ihnen war kein Boden mehr, sondern nur noch das feuchte Nass des reisenden Flusses.

 

Die Strömung des Flusses zerrte an ihm. Doch Gabriel schaffte es mit halber Not nicht unterzugehen, aber sah nirgends Rondas oder Lilly. Er tauchte unter und sah ihn, immer noch mit Lilly auf den Schultern, beim Versuch aufzutauchen, jedoch hielt ihn die Strömung und das zusätzliche Gewicht unter Wasser. Er schwamm zu ihm hinüber, sah ihn mit fragendem Gesicht an und deute mit dem Finger nach oben. Rondas hob die Hand und zeigte ihm den Mittelfinger. Gabriel verzog das Gesicht zu einem Lächeln und half ihm Lilly an die Wasseroberfläche zu bringen. Oben angekommen schnappten die Beiden erstmals Luft und überprüften so gut es ging, ob Lilly wohlauf war. „Ihr Puls ist noch da“, wollte Gabriel ihn beruhigen. „Wieso weißt du das?“ - „Ich habe ihren Puls abgehört.“ – „An ihrer Brust?!“ schrie Rondas und schluckte dafür Wasser. „Wo sonst?!“, fragte Gabriel der versuchte sich die nassen Haare aus dem Gesicht zu wischen. Doch bevor Rondas noch etwas sagen konnte, sah er Gabriels entsetztes Gesicht. „Übrigens, ich weiss wo wir sind“, sagte dieser, so dass Rondas ihn kaum verstehen konnte. Doch das lag nicht daran, dass er undeutlich sprach, sondern wegen dem tosenden Wasserfall auf den sie zusteuerten. Sie versuchten verzweifelt das nahe gelegene Ufer zu erreichen, doch vergeblich. Der Wasserfall kam immer näher, doch das Ufer war immer noch zu weit entfernt. Sie versuchten es weiter, doch sie schafften es nicht. „Ich habe einen Plan!“ schrie Gabriel auf einmal, „Halt dich an mir fest!“ -  „Wenn es nicht funktioniert bring ich dich um!“ kam es von Rondas zurück, der ihm die Hand reichte. „Soweit wird es nicht kommen“ murmelte Gabriel, als sie am Ende des Flusses angelangt waren. Er erinnerte sich an den Traum den er gehabt hatte. Damals war die Wand vor ihm zurückgewichen und obschon es in der Realität kaum geschehen würde, wuchs in ihm diese zweifelhafte Furcht. Lilly hing immer noch ohnmächtig an Rondas, als sie den Wasserfall hinabstürzten. Rondas folgte ihm und war anscheinend der einzige, der dem Tod ins Auge blickte. Denn Gabriel johlte, als er als letzter hinabzustürzen schien. Dann zog es an Rondas Armen. Gabriel hielt sich an einer Wurzel fest, die genau neben dem Abgrund hinauswuchs. „Das war dein Plan?!“, schrie Rondas ihn entsetzt an. „Klar“, lachte Gabriel ihn an. „Was in Ifrits Namen hättest du getan wenn diese vermaledeite Wurzel nicht gehalten hätte?!“, schrie Rondas immer noch aufgebracht. „Weiss nicht, versucht auf dir oder Lilly zu landen?“ witzelte Gabriel weiter. „Und was jetzt?“, fragte Rondas, der sich versuchte sich zu beruhigen. Gabriel schwieg. „Soll das heissen weiter hast du noch nicht gedacht?“, fragte Rondas mit emotionsloser Stimme. „Hab ja selber nicht erwartet, dass wir es schaffen“, gab er zu, schliesslich hat die Angst aus dem Traum an ihm genagt.

Sie hingen noch eine Weile an dieser Wurzel, bevor die Stille, wenn man das Tosen des Wasserfalls als Stille bezeichnen kann, von einem bekannten Schrei gestört wurde. „Sie einer an, die Prinzessin ist erwacht“, bemerkte Gabriel trocken. „Wo sind wir?!“ fragte Lilly entsetzt. „Wonach sieht’s denn aus?“, fragte Gabriel mit einem Hauch Sarkasmus in der Stimme. „Wir hängen 100 Meter über dem Abgrund, unser Leben hängt an einer Wurzel und wir wissen nicht was zu tun ist“ fasste Rondas ihr kurz zusammen. „Gibt es auch eine gute Nachricht...?“ fragte Lilly, leichenblass und dem Drang widerstehend hinunter zu sehen. „Hmm. Wir leben noch. Keine Knipfer in Sicht“ – „Und Rondas darf deine Hand halten“, ergänzte Gabriel mit einem Lächeln. Rondas und Lilly erröteten. „Also ihr zwei Turteltauben, ich möchte eure feurige Unterhaltung nicht unterbrechen, aber wenn Lilly schon mal wach ist, könnten wir doch versuchen wieder festen Boden unter die Füsse zu kriegen?“, fragte Gabriel und wartete auf eine Antwort, die jedoch ausblieb, weil beide ihn neugierig anschauten und es für überflüssig hielt seinen Kommentar mit einer Bemerkung zu ehren. „Na gut, Lilly, würdest du mir eine Last von den Schultern nehmen und dich entweder fallen lassen oder an Rondas und mir hinaufklettern?“, stellte Gabriel sie vor die Wahl. Sie zierte sich, da sie einen Rock trug, überwand sich jedoch und begann sich an Rondas hinauf zu ziehen. Der schloss seine Augen, um ja keinen ungeziemten Blick zu erhaschen. Als sie auf den Schultern von Gabriel stand, schloss auch dieser seine Augen, spürte jedoch, dass sie sich nicht mehr rührte. Sie konnte zwar über den Abgrund hinweg sehen, doch was sie sah liess sie auf der Stelle wieder hinab gleiten, so dass sie fast den halt verloren hätte. „Es kommt ein... ein...“, stotterte sie. „Ein Käfer?“, fragte Gabriel mit genervter Stimme, denn ihre plötzliche Bewegung hätte ihn fast die Wurzel loslassen lassen. Doch dann ertönte wieder das allzu bekannte Zischen. „Wiiessssooo müsssen wiiir sssiee ssuuuchen?“ – „Wassss fragssst duuu miiich“ – „Soooonssst issst ja nieeemand hiiier!“, sprachen die scheusslichen Kreaturen miteinander, und standen einen Schritt von der Klippe entfernt. Die Drei hingen immer noch dort und hofften, dass die Knipfer nicht auf die Idee kamen, den Abgrund zu untersuchen. „Geeehen wiiir. Wiiir saagen iiihr einfaaach dasss die Flüüüchtigen den Waaassserfaall hinunter gefaaalleen seeeien“, schlug der eine vor und der andere akzeptierte es wohl schweigend, denn sie entfernten sich mit gemächlichen Schritten vom Wasserfall und verschwanden in der Finsternis der Nacht.

Lilly zog sich langsam hinauf und legte sich dort erschöpft auf den Rücken. Rondas machte sich daran an Gabriel hinauf zu klettern und half diesem dann auch hinauf. Kaum war Gabriel wieder auf den Beinen, sah er Rondas ins Gesicht und begann zu Lachen. Auch Rondas wurde davon angesteckt. Ihr Lachen wurde glücklicherweise vom Wasserfall etwas gedämpft. Lilly schüttelten den Kopf, ohne Verständnis dafür zu haben, was daran so witzig gewesen sei. „Und jetzt ab nach Hause“, schlug Rondas vor, der sich als erster erholte. Er tastete seine durchnässte Kleidung ab um zu sehen ob er noch alles dabei hatte. Da fielen im die Hausaufgaben ein, die er im Wald liegen gelassen hatte. „Immerhin leben wir noch“, dachte er sich. Sie waren an Gabriels Lieblingsplatz, den jedoch die anderen Beiden nicht kannten. Doch sie fragten ihn nicht woher er den Weg hinunter kannte, den er sofort einschlug und waren nur froh darum den Knipfern entkommen zu sein.

 

Unten angekommen, folgten sie dem Flusslauf, der sie direkt zum Dorf leiten würde. Die kalte Nachtluft liess sie frösteln, weshalb sie kurz rasteten. Gabriel saugte ihnen das Wasser aus der Kleidung. Lilly beobachtete ihn neugierig. „Wie machst du das?“ – „Das Wasserelement liegt mir. Ich kann mein Chakra damit verbinden, aber auch welches herstellen, was aber nicht so einfach ist.“ Lilly neigte den Kopf nachdenklich zur Seite und wandte sich an Rondas. „Und welches Element liegt dir?“ Rondas lächelte und schnippte. An seinen Fingerspitzen loderte eine kleine Flamme. Doch er löschte sie sofort wieder, denn sie wussten nicht, ob Knipfer sie sonst sehen würden. Getrocknet machten sie sich wieder auf den Weg. „Weisst du was komisch ist?“, fragte Rondas Gabriel auf einmal. „Lilly hat mir gesagt, sie habe von Leilana erfahren, dass wir beide in der Lage sind unser Chakra zu nutzen.“ – „Sieht ihr wirklich nicht ähnlich, gegen ihre eigenen Regeln zu verstossen“. „Hat sie auch nicht“, sagte Lilly zur Überraschung der Beiden. „Ich bin euch Beiden Mal gefolgt, und habe gesehen, was ihr alles könnt“, fing sie zu erzählen an, und bemerkte nicht wie Rondas Brust vor Stolz anschwoll. „Jedenfalls habe ich, kaum wart ihr weg, Leilana darauf angesprochen, und sie hat mir vorgeschlagen, mich ebenfalls zu unterrichten, wenn ich für mich behalte, was ich gesehen habe“, erzählte sie weiter. „Ich habe zwar Ähnliches drauf wie ihr, doch seid ihr mir, wie es scheint, weit überlegen.“ – „Wäre auch nicht fair gewesen wenn du uns ebenbürtig wärst“, sagte Gabriel und erntete einen kalten Blick von Rondas. Sie setzten ihre Nachtwanderung ohne Zwischenfälle fort. Gabriel dachte an seinen Traum von letzter Nacht. Er hatte vom Wasserfall geträumt und auch von Salina. Beides war ihm in dieser Nacht bereits widerfahren. „War es eine Vision“, fragte er sich, aber dann müsste noch einiges passieren und der Gedanke daran liess sein Inneres verkrampfen. Auf einmal blieben Lilly und Rondas stehen und Gabriel lief in Gedanken versunken in die Beiden hinein. „Was ist denn“, begann er, doch verstummte als er das Dorf sah. Von weitem hatten sie den Rauch zwar gesehen, doch es für gewöhnlichen Rauch gehalten. Es brannten nur wenige Häuser, und zwischen ihnen wurden die Dorfbewohner von Gardisten umhergescheucht, doch es schien noch niemand verletzt worden zu sein. Gabriels Herz schlug schneller. Ohne ein Wort zu den Beiden zu sagen rannte er in den Wald. Er wollte sofort zu Leilanas Haus und achtete nicht auf die Rufe der anderen. Er rannte so schnell er konnte. Die Erinnerung an den Traum, erfüllte ihn mit einer noch nie gekannten Angst. Das Dorf war nicht so zugerichtet wie er es im Traum gesehen hatte, doch er wollte sich vergewissern, wie es um Leilana stand.

Als er ihr Haus erreichte, war keine Spur von Salina, oder einer toten Leilana. Gabriel keuchte und sah sich um. Er erschrak zu Tode als jemand seine Hand auf seine Schulter legte. Er drehte sich um und erblickte Leilanas lächelndes Gesicht. Er fiel ihr um den Hals und hatte nicht vor sie los zu lassen. „Hatte nicht erwartet, dass du dich jemals so freuen würdest mein Gesicht zu sehen“, sagte sie mit freundlicher Stimme und begrüsste auch die anderen Beiden, als diese auf die Lichtung traten. „Freue mich auch dich zu sehen Rondas, aber Lilly? Was tust du bei ihnen?“ fragte Leilana überrascht. „Das habe ich mich auch schon gefragt“, sagte Gabriel, der sich von Leilana losgelöst hatte. „Meine Klasse erhielt denselben Auftrag von Frau Ngoc. Also ging ich mit meinem Freund“, bei diesen Worten zuckte Rondas ein bisschen zusammen, „Ex-Freund in den Wald, um die Aufgaben zu erledigen“, verbesserte sich Lilly, mit einem Blick auf Rondas. „Er wurde von einem Knipfer hinterrücks getötet als er mich küssen wollte“, erzählte sie mit gesenktem Blick, und sah deshalb nicht, dass Rondas ein schadenfrohes, aber kurzes Grinsen über die Lippen huschte. Sie erzählte auch kurz was ihr widerfahren war, als sie von Rondas und Gabriel gerettet wurden und wie sie geflohen waren.

„Habe geahnt, dass Salina es früher oder später herausfinden würde. Ihr müsst euch beeilen, Gabriel und Rondas, ihr werdet sofort zum Nebelgebirge aufbrechen. Und euch einen Weg durch die Höhlen bahnen. Im Innern werdet ihr einen Weisen treffen. Er wird euch erzählen was ihr tun müsst“, sprach sie zu ihnen, die sie verwirrt ansahen, aber anscheinend erkannten, dass nicht die Zeit war um zu diskutieren und kurz nickten. „Nun zu dir Lilly. Es tut mir Leid, dass du in diese Geschichte hineingezogen wirst. Aber in diesem Fall kommt mir nur eine Idee. Du wirst Sally nehmen, einen Chocobo, und dich zu einer guten Freundin von mir begeben“, sagte sie mit sorgenvoller Miene. Sie drehte sich dem Wald zu und pfiff. Zuerst geschah nichts, bis auf einmal Schritte zu hören waren, die schnell näher kamen. Ein riesiger Vogel kam aus dem Wald gerannt und machte vor ihnen halt. Er hatte einen langen Hals, kleine Flügel und lange, federlose Beine. Ein edles dunkelgrünes Federkleid bedeckte seinen Körper und verschmolz praktisch mit dem Wald. „Er kennt den Wald Cyriels wie kaum ein anderer. Ich habe ihn aus Rymolo vor vielen Jahren hierher gebracht und hier aufgezogen. Er wird dir aufs Wort gehorchen und wie es aussieht mag er dich bereits“, sagte sie mit einem Lächeln, als sich der Vogel Lilly näherte und seinen Kopf an ihrem Kopf rieb. Leilana verschwand kurz im Haus und kam mit drei Bündeln wieder. „Nehmt je einen, sie beinhalten genug Nahrung, um die Berge und später die Hauptstadt zu erreichen“ Bei diesen Worten glänzten die Augen der beiden Jungen. „Die Hauptstadt?“, fragten sie erstaunt. Denn praktisch jeder träumte davon etwas von der Welt zu sehen Yilia, die Hauptstadt Cyriels war das Tor zu dieser Welt. „Aber was wirst du tun?“ fragte Lilly mit besorgtem Blick. Alle Drei sahen erwartungsvoll zu Leilana, die gedankenverloren in den Himmel sah. „Salina wird bald hier ankommen. Ich werde sie erwarten.“ – „Und im Kampf gegen sie sterben“, schloss Gabriel den Satz ab. Rondas sah ihn, entsetzt über seine Worte, wütend an. „Ich hab davon geträumt letzte Nacht“, begann Gabriel zu erzählen, „der Sturz vom Wasserfall, das zerstörte Dorf, dein Tod und anderes das hoffentlich nicht eintreffen wird.“ Gabriel stammelte, mit aller Kraft wollte er die Bilder verdrängen, die er letzte Nacht gesehen hat, besonders die von Rondas. Ohne ein Wort zu sagen ging Leilana auf ihn zu und schloss ihn in die Arme. Es war als ob sich eine unendliche Last von seinen Schultern lösen würde. Er spürte wie ihm die Tränen über die Wangen liefen. Er wusste was Leilana erwarten würde. Er wünschte er könnte ihr helfen, doch es wäre töricht gewesen es zu versuchen, statt Leilanas Wunsch zu folgen. Die Umarmung löste sich und Gabriel wischte sich rasch die Tränen aus dem Gesicht, bevor sie jemand im Licht des Mondes hätte sehen können. Leilana wandte sich an Lilly, die den Tränen nahe war, als sie ihren Namen sagte. „Lilly, reite mit Sally, sie kennt den Weg. Mehr kann ich dir nicht sagen, weil du gar nicht dorthin dürftest, aber da ich unmöglich von hier weg kann, wirst du an meiner Stelle gehen! Sie werden Sally erkennen und verstehen wenn du ihnen von diesem Tag erzählst. Versprich mir, dass du es schaffst.“ Die letzten Worte flüsterte sie nur noch. Denn Lilly hatte sich ihr an den Hals geworfen und angefangen laut zu weinen. Gabriel spürte, wie die eben verschwundene Last wieder grösser wurde. Schluchzend ging Lilly zusammen mit Leilana zu Sally und liess sich von ihr helfen den grossen Vogel zu besteigen. Rondas sah sie sehnsüchtig an, doch keiner der Beiden wusste was sie sagen sollten. „Pass auf dich auf“, flüsterte sie, als sie an ihm vorbei ritt und mit einem letzten Blick auf die Lichtung verschwand sie im Wald.

„Die Zeit drängt“, sagte Leilana nun wieder lauter. Die Trauer in ihrer Stimme war gewichen. „Ihr kennt den Weg, reist augenblicklich nach Süden. Ich wünsche euch alles Gute auf eurem Weg.“ Rondas wollte gerade etwas einwenden, doch Leilana kam ihm zuvor. „Ich weiss, dass du dir Sorgen um deine Eltern machst, aber im Moment kannst du nichts für sie tun! Flieh heute, um an einem anderen Tag für sie zu kämpfen.“ Rondas sah sie verärgert an, obschon er wusste, dass sie Recht hatte. Auch er rang mit den Tränen, doch hielt er sie zurück. Eine zeitlang blieben sie so stehen, bis auf einmal Schreie zu hören waren. „Geht jetzt!“ Gabriel wandte den Blick ab, sah Rondas an und gemeinsam marschierten sie in den Wald, wortlos, ohne einen Blick zurück zu werfen.

„Meinst du wir schaffen es durch den ganzen Wald?“, fragte Gabriel Rondas nach einer Weile. „Falls wir den Knipfer nicht über den Weg laufen, du dich nicht verläufst oder sonst noch was Schlimmes passiert, stehen die Chancen gar nicht einmal schlecht“, gab Rondas ihm als Antwort zurück. Gabriel konnte sich ein mattes Lächeln nicht verkneifen und auch Rondas liess es sich nicht nehmen ihre Reise mit ein wenig Zuversicht zu begegnen und liess auch ein schwaches Lächeln über die Lippen wandern. Doch der Abschied, von dem sie wussten, dass er endgültig war, sass ihnen immer noch in den Knochen, so dass sie schweigend weitergingen und ihr zuhause hinter sich liessen, wissend es nie mehr so anzutreffen, wie sie es gekannt und geliebt hatten.

 
 
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